Zehn Jahre netzpolitik.org: Bei der Geburtstags-Konferenz „Fight for your digital rights“ in Berlin wurde jetzt Bilanz gezogen. Richtig ist, dass ohne Markus Beckedahl und seine Unterstützer viele netzpolitische Themen nie in der breiten Öffentlichkeit diskutiert worden wären und auch ganz aktuell gehört netzpolitik.org zu den wenigen Medien, die noch detailliert über den NSA-Untersuchungsausschuss berichten – und dafür (was mich fassungslos macht) Ärger mit der Bundesregierung bekommt. Viel Feind, viel Ehr’: Auch dazu meinen herzlichen Glückwunsch! Doch wo Licht ist, da ist auch Schatten.
Denn was mich beim Besuch der Konferenz in der Berliner Kulturbrauerei nachdenklich gemacht hat, ist die fast völlige Abwesenheit von Netzpolitikern aus den verschiedenen Parlamenten bei der Diskussion. Vor allem Bundespolitiker waren weit und breit nicht zu sehen. Über die Gründe dafür möchte ich gar nicht spekulieren. Mein Gefühl ist, dass die meisten Aktiven und Unterstützer der „Plattform für digitale Freiheitsrechte“ die drängenden netzpolitischen Probleme ohnehin am liebsten unter sich und ohne die etablierte Politik und deren Repräsentanten diskutieren möchten. Es scheint eine grundsätzliche Abneigung bzw. Skepsis zu geben gegen Parteien, Abgeordnete und Parlamente. Das ist ein bisschen so wie bei den Grünen Ende der 70er Jahre: Missstände erkannt, Missstände angeprangert und diskutiert – und was kommt dann?
Bei der Ökopartei haben Realos und Fundis lange darüber gestritten, ob sie den „Marsch durch die Institutionen“ antreten sollen. Zwiegespalten scheint in dieser Frage auch die so genannte Netzgemeinde. Die Reaktion der Zuschauer auf Pragmatiker wie Sascha Lobo bei der Konferenz war für mich schon fast symptomatisch. Zuviel Kommerz, zu nahe an Politikern und der Öffentlichkeit, das macht Lobo zu einer umstrittenen Figur. Doch steht die außerparlamentarische Netzpolitik in Deutschland für mich aktuell vor derselben Entscheidung, wie einst die Ökos: Bleiben wir eine exklusive Gruppe mahnender Insider oder tragen wir unser Wissen nach außen, um unter Nutzung des politischen Systems und durch seine Durchdringung etwas zu verändern.
Sascha Lobo plädierte in Berlin für die zweite Alternative und wurde dafür zwar nicht gleich ausgebuht, aber mit breiter Skepsis bestraft. Dass er nur noch jede zweite Kolumne bei Spiegel-Online über das Thema Überwachung schreiben wolle, nimmt ihm mancher bereits jetzt übel. Doch Lobo nennt es „Preaching to the choir“, wenn er nur noch über das gleiche Thema schreibt. Die breite Masse wende sich dann ab. Stattdessen will er seine Bekanntheit und die seiner Kolumnen nutzen, um neben Mainstream-Themen immer wieder ernste netzpolitische Probleme zu adressieren.
„Unser Job für immer oder zumindest eine ziemlich lange Zeit wird es sein, die Menschen da draußen aufzuklären, um unsere Privatsphäre zu beschützen“, ist sich Lobo sicher. Dafür will er diejenigen Politiker überzeugen, die „nicht ganz so Scheiße sind“. Von dieser Art der Lobbyarbeit ist für mich der Sprung in die aktive Gestaltung von Politik nicht mehr fern. Und genau das täte der Netzpolitik gut! Sie kann es sich nämlich nicht mehr leisten, nur als Beobachter an der Bande zu stehen und gute Ratschläge aufs Spielfeld zu rufen. Die netzpolitisch Engagierten müssen als Spieler, Trainer, Manager aktiv ins Geschehen eingreifen. Dafür gibt es bereits Strukturen, die mancherorts mit Verachtung gestraft werden, doch ist es nun mal die Parteien-Demokratie für die sich unsere Verfassungsmütter- und väter entschieden haben, und die sich trotz aller Unwuchten bis heute bewährt hat. Dazu habe ich an anderer Stelle schon einmal etwas geschrieben.
Aus den verschiedenen Wortbeiträgen war in Berlin sehr gut zu erkennen, dass die selbst gebackene Kruste auch bei den Netzaktiven langsam aufbricht. So forderte Frank Rieger, Sprecher des Chaos Computer Clubs (CCC), „unseren Kulturraum zu erweitern“. Die Massenüberwachung könne jeder einzelne von uns durch zum Beispiel Verschlüsselung erschweren, damit verteuern und so letztlich unmöglich machen. Die „individuelle Infiltration“ müsse dagegen politisch bekämpft werden. Sein Appell: „Wir wollen die Leute in die Lage versetzen zu verstehen, wie die digitale Welt funktioniert.“
Der Grundstein ist nicht nur durch netzpolitik.org längst gelegt worden. Nun gilt es weiterzumachen und das Wissen um die digitale Welt in die Breite zu tragen. Die Frontleute und Multiplikatoren der Szene sollten sich überlegen, selber in eine gestaltende Rolle zu wechseln. Als Lobbyisten tun sie dies bereits – Gott sei Dank – an vielen Stellen erfolgreich. Warum nicht auch als Abgeordnete und Funktionsträger innerhalb von Parteien? Gerne auch mit einer ganz neuen Partei, wie es mit den Piraten versucht wurde. Deren Geburtsfehler war allerdings zu glauben, dass man auf Dauer monothematisch Wahlen in Kommunen, Ländern und dem Bund bestehen kann. Als starkes und wichtiges Feld hat die Netzpolitik in jeder unserer aktuellen demokratischen Parteien einen Platz verdient.
Ich für meinen Teil möchte helfen, diesen Platz innerhalb meiner SPD zu erstreiten. Dabei weiß ich schon jetzt viele Kolleginnen und Kollegen an meiner Seite, die in die gleiche Richtung arbeiten. Ansonsten wäre ein programmatischer Vorstoß wie der, den wir derzeit zu #DigitalLEBEN unternehmen, kaum möglich.
Den Grünen mit ihrem „Atomkraft nein danke“ haben wir unseren Atomausstieg zu verdanken. Sie hatten den Mut, aus ihrem außerparlamentarischen Protest eine innerparlamentarische Bewegung zu machen. Warum soll das nicht auch der Netzpolitik gelingen?