Tagespraktikum im Seniorenheim: Pflege braucht mehr Anerkennung

„Warum machen Sie das eigentlich“ , will Lisa irgendwann von mir wissen. Sie selbst weiß ganz genau, warum sie als „Bufdi“ ein Jahr lang freiwillig im Caritas Seniorenzentrum St. Josef in Kamp-Lintfort hilft. „Erblich vorbelastet“, meint die junge Frau, weil auch ihre Mutter hier als Pflegerin arbeitet. Lisa eifert ihr nach und will nach dem freiwilligen sozialen Jahr eine Ausbildung zur Altenpflegerin absolvieren. Aber warum kommt ein Landtagsabgeordneter für einen ganzen Tag in die Einrichtung?

Manchmal reden Politiker wie Blinde von der Farbe. Ihnen fehlt der richtige Einblick in die Dinge. Wie auch, möchte man fragen, soll jemand in allen Themen gleich versiert sein? Dennoch: Als Parlamentarier stimme ich immer mal wieder über Sachen ab, von denen ich zunächst keine Ahnung habe oder die ich nicht selber kennen lernen konnte. Meist verlässt man sich auf die Kolleginnen und Kollegen mit Fachkenntnis, die alles sauber vorher durchberaten und uns „Fachfremde“ anschließend informieren. Heute soll es mal anders sein. Heute will ich eine ganze Frühschicht im Seniorenheim mitmachen. Deshalb stehe ich um sieben Uhr in der Früh ziemlich aufgeregt vor dem hell erleuchteten Haus an der Moerser Straße in Kamp-Lintfort.

Das Caritas Seniorenzentrum St. Josef morgens um sieben.

Die Begrüßung könnte herzlicher nicht sein. Die Pflegedienstleiterin wartet schon am Eingang – gemeinsam mit Matthias, dem ich nun einen Vormittag lang nicht von der Seite weiche. Aus Neugier, aber sicherlich auch, weil ich ziemlich großen Respekt davor habe, in einer Wohngemeinschaft von dementiell veränderten Menschen zu arbeiten. Keine Ahnung, wie Euch das geht: Ich fühle mich ziemlich hilflos, wenn mir Frauen und Männer gegenüber stehen, die ihre Erinnerung ans eigene Leben und an die Konventionen da draußen verloren haben.

Erste Lektion: Denk nicht so lange nach, sei einfach Mensch. Matthias und seine Kollegin Anna, die mich oben gemeinsam mit Bufdi Lisa begrüßt, haben das gelernt. Seit 20 Jahren arbeitet der gebürtige Kamp-Lintforter in der Altenpflege – mit sehr viel Ruhe und einem einfachen Credo: „Ich mache das hier nicht für irgendwen, sondern für die Menschen, die hier leben.“ So begrüßt er seine Schutzbefohlenen ziemlich locker und mit dem Vornamen. Nicht aus mangelndem Respekt, sondern „weil das sehr viel persönlicher ist und die Bewohner das mögen“. Jetzt, um kurz nach sieben, kommen die ersten aus ihren Zimmern. Einige sind schon angezogen und doch geht es erstmal für alle zurück ins Zimmer. Schauen, ob auch alle gewaschen sind. Für mich die erste Überwindung: Als Jugendlicher habe ich den Wehrdienst verweigert und anschließend vermieden, einem Pflegeheim zugewiesen zu werden. Aus Angst, anderen Menschen bei der Körperpflege helfen zu müssen.

Junge Helden von einst

Jetzt passiert das ganz selbstverständlich. Ich sehe Matthias dabei zu, wie er liebevoll mit den Frauen und Männern spricht, ihnen – wo es nötig ist – zur Hand geht. Weil ich nicht nur im Weg herumstehen will, beziehe ich die Betten neu. Und schaue mich in den Zimmern um. Eines haben hier alle gemein: An den Wänden hängen Bilder aus längst vergangenen Tagen. Vom eigenen Hochzeitstag, vom Ausflug mit den Kindern und Enkelkindern, von der Wanderung bis an die Bergspitze. Doch aus den jungen Helden von damals sind gebrechliche Menschen geworden, die nun selber Hilfe benötigen.

Nirgendwo wird mir das klarer als im Zimmer von Hermann (Name geändert), der nach zig Schlaganfällen nun im Bett liegt, auf den Tod und die nächste Mahlzeit wartet. Vom Bild an der Wand lächelt mich ein junger Mann mit dichtem schwarzen Haar an, neben sich eine bildhübsche Frau im gleichen Alter, kokett lächelnd. Vom Bett dringt ein leises Stöhnen, das signalisiert: Ja, ich nehme noch einen Schluck Kaffee. Bei Weißbrot mit Nuspli kommen Matthias und ich unweigerlich auf das Thema Sterbehilfe. In Deutschland ein Tabu – für mich in diesem Moment jedoch schleierhaft, warum hierüber nicht viel mehr am Menschen und seinem Schicksal diskutiert wird. Der Patient im Bett bekommt noch fast alles mit. Auch seine ausweglose Situation?

Mehr Anerkennung nötig

Den Mitarbeitern von HG5, wie die Gruppe heißt, bleibt nicht viel Zeit für große Pausen. Erst Waschen und Anziehen, dann Betten beziehen und frühstücken. Einige können das noch am Tisch, andere müssen schon gefüttert werden. Je nach Pflegestufe wird den Patienten ein gewisses Zeitbudget für die jeweilige Pflegetätigkeit zugesprochen. Gerade im ambulanten Bereich reicht die jedoch nie. Das und die mangelhafte Bezahlung hält viele davon ab, einen Pflegeberuf auszuüben. Dabei bräuchte unsere Gesellschaft wesentlich mehr Menschen wie Anna, Lisa, Matthias und all die anderen, die bereit sind, für zum Teil 1.500 Euro brutto im Monat ältere Menschen zu pflegen. Zu jeder Tages- und Nachtzeit, grundsätzlich an 365 Tagen im Jahr. Feiertage und Wochenenden sind in diesem Beruf relativ. Tag und Nacht auch. Wer hier durchhält, dem liegt etwas an den Menschen. Das hat mehr Anerkennung verdient – ausgedrückt auch in Euro und Cent!

Die Arbeit erleichtern könnte man, indem auf so manche Berichtspflicht verzichtet würde. An diesem Vormittag wird Matthias jede einzelne Tätigkeit vermerken. Dadurch füllen sich Festplatten und Formulare – doch wem nutzt das am Ende? Ein Beispiel: Erhält ein Patient Pflegestufe 3, so müssen jeden Tag besondere Auffälligkeiten dokumentiert werden. Das ist zum Beispiel der Besuch eines Angehörigen, der gute Appetit beim Frühstück oder der Umstand, dass jemand „im Rahmen seiner Möglichkeiten“ beim Waschen geholfen hat. Für Patient und Pfleger sicherlich bemerkenswert, doch welche Schlüsse werden Dritte irgendwann daraus ziehen? Die Mitarbeiter kostet das jedenfalls täglich eine Menge Zeit. Und das, obwohl jetzt schon wieder das Mittagessen wartet.

Um 11.30 Uhr wird die frische Mahlzeit geliefert. Portioniert wird es vor Ort. Mundgerecht geschnitten auch. Wir machen uns jetzt auf, den bettlägerigen Bewohnern ihre Mahlzeit zu bringen. Auch wenn es auf das Ende der Frühschicht zugeht, merke ich bei Matthias keine Ermüdungserscheinungen. Geduldig füttert er Fleisch, Kartoffeln und Gemüse, reicht zwischendurch die Schnabeltasse. Wie schon am Morgen werden beim Essen auch die Medikamente verteilt. Eine gute Stunde später haben alle gegessen. Müdigkeit breitet sich aus bei den Senioren. Wir müssen jetzt noch einmal ran: Patienten in ihren Betten umlagern, mit dem einen oder anderen zur Toilette gehen. Nicht vergessen: Das alles gehört sauber aufgeschrieben!

Schichtende: und jetzt?

Langsam aber sicher zeigt der kleine Zeiger der Uhr auf die zwei. Das Team der Mittagsschicht kommt und hört sich von den Kollegen an, was am Vormittag passiert ist. Übergabegespräche. Die Frühschicht sitzt zum Schluss noch mal gemeinsam auf dem Balkon. „Warum?“ will Lisa da von mir wissen. Mir fallen nach sieben Stunden gemeinsam mit so engagierten und liebenswerten Menschen die Worte aus dem „Kleinen Prinzen“ ein: „Du bist zeitlebens für die Dinge verantwortlich, die du dir vertraut gemacht hast.“ Jetzt bin ich vertraut. Nun weiß ich, was es heißt, in der Pflege zu arbeiten. Der Blinde kennt jetzt auch diese Schattierung des Lebens.

Nachtrag:
Heute, am 20. November, lese ich in der Zeitung, dass Hermann verstorben ist. Mit 71 Jahren. Eine Erlösung.

Gepostet am 28. Oktober 2013 von

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