Eine Kuh macht Muh, viele Kühe machen Mühe

Während meines Praktikums im Lohnunternehmen von Norbert Köffer traf ich vor Monaten Familie Pittgens. „Zu uns musst du auch mal kommen“, rief mir Milchbauer Lars Pittgens zu, während er seine Kühe von der Weide holte. Mein damals gegebenes Versprechen konnte ich jetzt einlösen.

Wiedermal startet mein Praktikum zu nachtschlafender Zeit. Aber das bin ich aus der Pflege und der Bäckerei schon gewohnt. Um sechs Uhr in der Früh fahre ich auf den Abelshof in Kamp-Lintfort. Hintenrum bis vor den Stall, aus dem bereits Licht dringt. Mit in die Hüften gestemmten Händen begrüßt mich Lars Pittgens. Er lächelt wie so oft übers ganze Gesicht. Sein Blick mustert den Tagespraktikanten, der in Arbeitsklamotten zum Dienst erscheint. „Das ist schonmal gut, aber zieh dir besser Gummistiefel an“, fordert er mich auf. Mit angelegter Schürze und Gummihandschuhen betrete ich schließlich den Melkstand.

Von der Kuh in den Kaffee

Blick in den Melkstand

Ich muss an eine Autowerkstatt denken, in der die kaputten Wagen über eine Grube fahren. Die Grube gibt es hier auch, nur dass rechts und links die Kühe stehen, die zwei Mal am Tag gemolken werden wollen. Acht rechts, acht links: Die Karawane kommt abwechselnd herein oder wird nach dem Melken wieder heraus geschickt. Dazwischen viel Handarbeit. „Hast du schon mal eine Kuh gemolken?“, will Milchbauer Lars von mir wissen. „Ja“, denke ich für mich, „die Holzkuh beim Pfarrfest, deren Euter aus einem blauen Einmal-Handschuh bestand.“ Ich sage also Nein und lasse es mir lieber vom Fachmann zeigen: Daumen und Zeigefinger greifen einigermaßen fest oben um die Zitze. Leichter Druck vom Handballen genügt dann meist schon, damit Milch aus dem Euter spritzt. Fühlt sich ungewohnt an. „Keine Angst, Du kannst da nicht so schnell was abreißen“, lacht Lars und spritzt sich mit ein paar kräftigen Bewegungen Kuhmilch aus dem Euter direkt in seinen Thermo-Kaffeebecher. Frischeren Milchkaffee gibt’s nirgendwo.

Kuh für Kuh säubern wir die Zitzen und legen die vier Saugnäpfe der Melkmaschine einzeln an, die sich per Unterdruck ansaugen. Das gefällt nicht jeder Kuh sofort. Vor allem die jüngeren treten gerne mal nach hinten aus oder treten die Apparatur an ihren Eutern ab. Dann müssen wir nachlegen. Einmal angelegt, ahmt die Maschine präzise die Bewegung meiner Hand nach und melkt so ganz automatisch den kompletten Euter leer. Denn sobald keine Milch mehr rauskommt, merkt die Melkmaschine das und löst sich von selbst. Bevor die Achter-Gruppe mit Kühen wieder hinaus kommt in den Stall, wird eine gelbe Flüssigkeit auf die Zitzen aufgetragen. Das desinfiziert und beruhigt.

Jugendliche interessieren sich für Natur

Im Hintergrund treibt der 17-jährige Gregor die Tiere zusammen und führt sie gruppenweise auf den Melkstand. Der Kamp-Lintforter absolviert seine Ausbildung im Milchviehbetrieb der Familie Pittgens. Ungewöhnlich: Der begeisterte junge Mann kommt aus keiner Bauernfamilie und will auch keine Familientradition fortführen. Ihn hat ein dreiwöchiges Praktikum dazu gebracht, genau diesen und keinen anderen Beruf lernen zu wollen. Überhaupt, sagt Lars, merke er derzeit ein verstärktes Interesse junger Leute an der Natur und eben auch an der Landwirtschaft. Auch Sohn Jan will eines Tages in diesen Bereich. Doch noch wird der Hof zusätzlich unterstützt von einer Ganztagskraft sowie einem Melker, der bei der abendlichen Runde dafür sorgt, dass der Milchtank voll wird.

Auf diese Weise kommen Tag für Tag rund 3.500 Liter Milch zusammen, die von den rund 140 Kühen gegeben werden. Morgens um 6 und nachmittags um 17 Uhr werden die Tiere gemolken. Jeden Tag – an 365 Tagen im Jahr. Wenn andere nach einer durchzechten Nacht oder am Wochenende schon mal was länger schlafen, steht Lars trotzdem im Melkstand. Denn die Kühe sind an die Zeiten gewöhnt. Gewohnheitstiere eben. Trotzdem möchte der Landwirt seinen Job für kein Geld der Welt tauschen. Er ist auf dem Abelshof groß geworden und kennt jeden Grashalm drum herum. Das wird mir klar, als Lars, Gregor und ich auf dem Radlader Platz nehmen, um die Weiden zu inspizieren. Jetzt, im April, setzt sich langsam das gute Wetter durch. Die trächtigen Kühe, die keine Milch mehr geben, weil sie sich schon aufs Mutterkuh-Sein vorbereiten, dürfen die nächsten Wochen auf saftig grünen Wiesen stehen.

Klimawandel im Kleinen

„Früher ging die Saison vom 1. Mai bis zum 1. November. Sechs Monate gutes Wetter für die Kühe draußen. Heute fängt das schon Mitte April an und geht bis in den November hinein. Das spart zwar einerseits Futter im Stall, aber wenn die Sommer dann zu heiß werden, ernten wir auch weniger Heu für den Winter“, erklärt Lars mir den Klimawandel im Kleinen. Seine Familie und er, die ganz nahe an und mit der Natur leben, nehmen die zum Teil minimalen Veränderungen ganz genau wahr. Vor allem die extreme Hitze im Sommer trifft die Landwirte hart, weil sie dadurch weniger Futter ernten können und von woanders zukaufen müssen. Doch das Angebot rundherum wird ebenfalls weniger, teurer und das Futter hat insgesamt weniger Energie.

Das halbe Dutzend Kühe, das wir nach unseren Reparaturen am Weidezaun auf die Wiese lassen, hat dagegen Energie genug. Wie Kinder freuen sich die Paarhufer und springen quer über die Wiese. Damit die Tiere, die nur schlecht sehen können, nicht vor Freude blindlings durch die Zäune rennen, postieren wir uns rundherum und winken warnend, sobald eine Kuh auf uns zuschießt. Nach einer Viertelstunde haben sie sich beruhigt und beginnen ganz ruhig das leckere Gras wiederzukäuen.

Jede Kuh fängt klein an

Schon vorher haben wir uns um die Kühe im Stall gekümmert, die auf dem Abelshof tagsüber auch draußen stehen können. Sie recken dann die Hälse zwischen die Stäbe, um zu fressen. Dabei schieben sie Teile des Futters außer Reichweite, so dass Gregor und ich mehrmals an diesem Tag mit Schüppe und Besen die so genannte Silage zurück in Richtung der Tiere schieben. Ich bekomme dabei das Gefühl, dass sie mich dankbar durch ihre riesigen Augen anschauen. Überhaupt wirken die großen, massigen Tiere sehr zutraulich, wenn man das von rund 600-700 Kilogramm Lebendgewicht behaupten kann.

Geradezu süß sind dagegen die kleinen Kälbchen, die immerzu mit ihren spitzen Zungen an der ausgestreckten Hand lecken wollen. Die Kälber füttern wir mit Muttermilch oder mischen eine energiereichere Milch aus Trockenpulver an. Damit helfen wir den Jungtieren über die ersten Wochen, die nicht immer einfach sind. Während dieser Zeit schauen Lars und Gregor immer wieder ganz genau hin. Der Kot der Kälber gibt Aufschluss über den Gesundheitszustand: „Gelbe Fladen und Durchfall sind nicht gut“, weiß Gregor und ich finde seine ernste Art, über den Stuhlgang von Kühen zu referieren, in diesem Moment äußerst abgeklärt und für einen 17-Jährigen schon sehr reif. Gleichaltrige ohne seine Erfahrungen mit Tieren auf dem Bauernhof würden sich sicherlich vor Lachen kaum einkriegen, wenn’s um so etwas Fremdartiges wie „Kuhscheiße“ geht. Ihnen fehlt, was Menschen noch vor Jahrzehnten ganz selbstverständlich und im wahren Sinne des Wortes miterlebt haben: die Nähe zu Nutztieren, von denen wir uns ernähren.

Melken, füttern, Zäune instandsetzen, Kühe auf die Weide treiben, ausmisten und immer wieder die Silage in Reichweite der Tiere schieben: Über die vielen Aufgaben vergesse ich die Zeit. Ich spüre die angenehme Müdigkeit meiner Muskeln und die satte Zufriedenheit darüber, heute etwas Handfestes, Messbares fertig bekommen zu haben. Einerseits. Andererseits frage ich mich, ob ich persönlich die Ausdauer mitbrächte, an jedem einzelnen Tag des Jahres rund um die Uhr für die Tiere da zu sein, die von mir abhängig sind. Andere machen Urlaub auf dem Bauernhof. Wer Urlaub vom Bauernhof machen will, braucht Vorbereitung und Unterstützung. Dennoch merke ich, dass Familie Pittgens in sich ruht. Der Hof ist Dreh- und Angelpunkt des täglichen Lebens, sicherer Hafen und Ort der Erholung, wenn Bauer Lars sich die Sonne ins Gesicht scheinen lässt.

„Was machst Du eigentlich, wenn irgendwann niemand mehr Kuhmilch trinken will?“, frage ich ihn irgendwann einmal. „Kein Problem, dann höre ich auf und mache einfach was anderes“, entgegnet er ohne viel zu überlegen. Ganz ehrlich? Nach diesem Tag kann ich ihm das einfach nicht glauben.

Meine bisherigen Praktika

Dies ist eine Reportage über meinen Einsatz auf dem Milchhof der Familie Pittgens. Der Text ist deshalb subjektiv, beschreibt ausschließlich meine Beobachtungen und verzichtet – getreu den Regeln des Genres– auf Bewertungen und Kommentare. Mindestens zwei Mal im Jahr versuche ich in meinem Wahlkreis einen Tag lang zu malochen. Das habe ich unter anderem schon beim Lohnunternehmerim Krankenhausbei der Müllabfuhrbeim Deutschen Roten Kreuzauf dem Baubeim Spargelstechen, in der Handwerksbäckerei Büsch, bei Amazon und McDonald’s getan sowie bei der Polizei und in einem Seniorenheim. Gegenbesuch: Du möchtest meinen Job als Abgeordneter kennen lernen? Dann mach doch ein Praktikum im Landtag!

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