Nicht nur in der SPD möchten viele Menschen die Agenda 2010 und mit ihr alle Hartz IV-Gesetze abschaffen. Dafür gibt es aber keinen Schalter. Ein mögliches Konzept dafür schon.
Ungerechtigkeit hat einen Namen: Hartz IV und Agenda 2010. Wann immer auf dem Arbeitsmarkt etwas als ungerecht identifiziert wird, führen viele das auf Gerhard Schröders Reformen zurück. Ob die tatsächlich immer Schuld sind, spielt keine Rolle. Die Agenda 2010 ist Synonym geworden für die täglichen Ungerechtigkeiten auf Sozialämtern und bei Job-Agenturen, beim Unterbieten von Lohngrenzen und dem Aushöhlen des Kündigungsschutzes. Schuld daran ist nur die SPD – so zumindest das Empfinden bei den Wählerinnen und Wählern.
Wo ist der Schalter, um die Agenda 2010 abzuschalten?
Unabhängig von der Richtigkeit dieser Analyse steht fest: Nur wenn die SPD dieses Stigma wie einen zu eng sitzenden Pullover endlich abstreifen kann, wird sie wieder erfolgreich sein können. Viele suchen deshalb den Schalter, mit dem sich die Agenda 2010 ausschalten lässt. Oder soll man sie einfach für beendet erklären? Am Gefühl der Betroffenen, schlecht behandelt zu werden, würde das wenig ändern.
Einen Schalter oder ein Gesetzespaket, die dem Spuk ein plötzliches Ende machen würden, gibt es leider nicht. Dafür gibt es aber eine einfache Formel. Wer sie beherzigt und danach konsequent ungerechte Regelungen und Gesetze ändert, legt am Ende doch den Schalter um. Das allgemeingültige Ziel, nach dem wir alle Politik machen müssen, lautet schlicht: „Jeder Mensch soll heute ohne Sorgen leben können und sich auch nicht vor der Zukunft fürchten müssen.“
Klingt nach „allem und nichts“? Eine Binsenweisheit? Sagt zu wenig aus? Manchmal sind die einfachsten Lösungen die besten. Machen wir doch mal den Test und legen den Satz wie eine Schablone an ein aktuelles Problem an.
Beispiel Real: So funktioniert’s!
Beispiel Real. In den vergangenen Wochen musste ich erfahren, wieviel Sorge die Beschäftigten der Metro-Tochter haben. Nicht nur, dass der ganze Laden zum Verkauf steht und niemand weiß, welche Filialen ein neuer Besitzer zumacht. Hinzu kommt, dass der Konzern seine Warenhauskette aufgehübscht hat, indem er den Tarifvertrag des Einzelhandels, der derzeit leider nicht allgemeingültig ist, ausgesetzt hat.
Jeder Mensch soll heute ohne Sorgen leben können und sich auch nicht vor der Zukunft fürchten müssen.
Mit den neuen Vollzeitverträgen gibt es nur noch rund 1.900 Euro statt früher 2.600 Euro brutto im Monat. Wer damit nicht auskommt, muss eben aufstocken. Heißt, dass der Staat die Lücke füllt, die man zum Leben braucht. Zum irgendwie Leben. Nicht zum sorgenfreien Leben.
Schritt für Schritt gerechter
Doch wenn heute jeder Mensch sorgenfrei leben soll (siehe oben), dann geht das so nicht. Die Politik muss – entlang des Beispiels – dann gleich für mehrere Dinge sorgen:
- Wo irgend möglich muss sie die Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen schützen oder diese begründen. Sie werden verhandelt zwischen Arbeitgebern und unabhängigen (!) Gewerkschaften, deren Anliegen es ist, für ihre Mitglieder auskömmliche Löhne zu verhandeln.
- Apropos Lohn: Der Mindestlohn von 8,50 Euro war ein guter Einstieg. Jetzt muss der Betrag an die tatsächlichen Lebensverhältnisse angepasst werden. Das kann auch zu lokal unterschiedlichen Beträgen führen, weil der Lebensunterhalt in München teurer ist als etwa auf dem Land. Das zeigt übrigens schon, dass ein Bedingungsloses Grundeinkommen als Ersatz für alle Sozialleistungen möglicherweise viel ungerechter sein könnte, als manche heute meinen.
- An den tatsächlichen Lebenshaltungskosten müssen sich dann auch die Hartz-4-Sätze orientieren.
Zeitlich unbegrenzte Aufstockerleistungen gehören gänzlich abgeschafft. Sie führen dazu, dass sich manche Unternehmen ihr Personal co-finanzieren lassen. Das können sie, wenn sie die allgemeinverbindlichen Tarifverträge aufkündigen und Lohndumping mittels eigener Tarifverträge betreiben. - Wer aufstockt, muss übrigens auch um die eigene Zukunft fürchten. Denn die Einkommensarmut von heute ist die Altersarmut von morgen. Wer heute kein Geld für später weglegen kann, wird als Rentner auch nicht viel haben. Ein Rentensystem wie in Österreich oder Skandinavien zu schaffen, in dem jeder genug für den eigenen Lebensabend hat, gehört zu den aktuell drängendsten Aufgaben deutscher Politik. Derzeit gibt es leider keine einzige Partei, die hierzu eine zündende Idee liefert.
Wer für all das sorgt, um nicht nur den Beschäftigten bei Real und im Einzelhandel zu helfen, hat die Agenda 2010 natürlich noch nicht gänzlich abgeschafft. Wenn aber meine SPD sich dazu aufmacht, nach der oben beschriebenen Formel Schritt für Schritt anzupacken, dann wird eines Tages niemand mehr von der Agenda 2010 sprechen. Stattdessen hätte sich die SPD gehäutet und anstelle des viel zu engen Pullovers wäre ein neues, attraktives Äußeres zutage getreten. Eines, das wieder die Strahlkraft einer echten Volkspartei besitzt.